Bildet bitte für die Realität aus!

101550849_1155391304795144_3927205249491664896_n.jpg

Viele Schauspielschulen halten an einer Berufswirklichkeit fest, die es so nicht mehr gibt. Damit riskieren sie, dass ihre Absolvent*innen sich in den Fängen eines Marktes verheddern, der immer undurchschaubarer wird.

(erschienen im BFFS-Magazin “Schauspiegel”, Juni 2020)

Die Mail, die ich da überfliege, lässt mich auflachen, bevor ich begreife, dass sie ernst gemeint ist: „Vielen Dank für Ihr Angebot, unseren Studierenden einen Workshop zum Thema schauspielerische Freischaffenheit bieten zu wollen“, lese ich, verfasst vom Leiter einer angesehenen staatlichen Schauspielschule. „Da wir bei uns aber nicht für die Freischaffenheit ausbilden, können wir einen solchen Workshop leider nicht anbieten.“

Ich sacke in meinen Schreibtischsessel. Bloß eine Absage, versuche ich mich zu beruhigen. Wer weiß? Vielleicht sind die Abgänger*innen dieser Schule ja tatsächlich bis zur Rente durchgängig in fixen Anstellungen tätig?

Nach und nach kommen sie mir aber in den Sinn, die Ex-Student*innen dieses Institutes, denen ich im Laufe meines Berufslebens begegnet bin. Kolleg*innen, die vorwiegend drehen, solche, die ein eigenes Theater aufgebaut haben, welche, die als Coaches arbeiten oder Krankenhausclowns, Dinnertheater spielen, auf Kreuzfahrten entertainen, synchronsprechen oder alles zusammen machen. Diese Kolleg*innen haben mit Absolvent*innen anderer Schauspielinstitute (ob renommiert oder nicht) eines gemeinsam: Sie sind FREISCHAFFEND.

 Sie alle haben auf ihren Schulen eine Menge gelernt, was sie bis heute brauchen können.

Aber etwas Entscheidendes haben sie dort (nach eigenen Angaben) nicht gelernt: mit den vielen Alltagsfragen dieses komplizierten Berufes umzugehen.

Fragen wie: Welchen Sozialstatus habe ich als Schauspieler*in? Wie versichere ich mich? Wie läuft es mit Steuern und Sozialabgaben, wenn ich weder durchgängig angestellt noch selbstständig arbeite? Was gibt es überhaupt für Arbeitsfelder, in denen ich meine „Skills“, die ich auf der Schauspielschule mitbekommen habe, nutzen kann? Alles Fragen, deren Beantwortung man den Absolvent*innen in der Regel für die Zeit NACH der Schule überlässt. Und warum? Weil viele dieser Institute (und da ist oben genanntes leider keine Ausnahme, wie ich von vielen Kolleg*innen weiß) „nicht für die Freischaffenheit“ ausbilden.

 Das Thema bewegt mich. Schon lange.

Weil ich merke, wie sich ganze Legionen von hochmotiviert gestarteten Schauspielschulabsolvent*innen in den Fängen dieses Berufes verheddern.

Viele entknoten sich, manche bleiben hängen, nicht wenige geben auf. Das komplette letzte Jahr war ich neben meiner „normalen“ Schauspieltätigkeit im Auftrag eines Medienverlags damit beschäftigt, eine Art Potpourri der Möglich- und Schwierigkeiten von uns freischaffenden Schauspieler*innen mithilfe von knapp 50 Expert*innen ihres jeweiligen Fachbereiches in einem Buch zusammenzufassen. Nun, das Buch ist erschienen, und ich sehe es als meine Aufgabe, die geballte Ladung Berufswissen, die dort versammelt ist, in einem Kurz-Workshop an Schauspielschüler*innen weiterzugeben – also dahin, wo es hingehört.

Warum ich das mache?

Tja, vor über zwanzig Jahren habe ich selber an einem der staatlichen Schauspielinstitute studiert. Auch hier war der gängige Weg (wollte man nicht als „Versager*in“ gelten), später an einer der großen Kommunalbühnen fest engagiert zu werden, und sich möglichst bis zur Rente in diesem fraglichen System zu installieren. Als ich Ende der 90er Jahre absolvierte, war diese Art von staatlich finanzierter Schauspielkarriere aber längst nicht mehr so gängig, wie es uns in den geschützten Räumen unserer Schule vermittelt wurde. Zwar erhielten damals noch ALLE Absolvent*innen staatlicher Schulen, die es anstrebten (und das waren gefühlte 99 Prozent) ein Erstengagement am sogenannten Stadttheater. Aber zwei, drei Jahre später, als man teurer wurde, sah das Angebot dann schon ganz anders aus.

 Mittlerweile geht durchschnittlich nicht mal mehr jede*r zweite Absolvent*in einer solchen Schauspielschule ins Festengagement. Fix angestellte Schauspieler*innen gibt es in Deutschland nur noch rund 2000 (Quelle: Deutscher Bühnenverein). Dem stehen geschätzte 20.000 freischaffende Schauspieler*innen gegenüber (Quelle: Filmmakers-Einträge deutscher Schauspieler*innen).

Also arbeiten gerade einmal zehn Prozent aller deutschen Schauspieler*innen mit Festvertrag.

 Der Grund? Durch Sparzwänge bis zur Unkenntlichkeit gestutzte Ensembles und ein schlecht bezahlendes, hierarchisches und familienfeindliches Kommunaltheater-System, dem viele Kolleg*innen nach ein paar Jahren entfliehen – falls sie nicht ohnehin ausgesondert werden.

 Die Alternative? Freischaffenheit. Doch was genau das bedeutet, müssen/mussten die meisten Schauspieler*innen, genau wie ich, schmerzlich selbst herausfinden.

Und ich hätte liebend gern auf so manche Ballettstunde verzichtet (nichts gegen Ballett!), wenn meine Schauspielschule mich stattdessen ansatzweise auf einen Berufsalltag vorbereitet hätte, in welchem 90 Prozent meiner Kolleg*innen leben.

 Tja, wo also liegt der Fehler? Bei Absolvent*innen, die leider nicht das Ausbildungsziel ihres Institutes erreicht haben? Am Schauspielberuf als solchen? Oder an Schulen, die an einer Berufsrealität festhalten, die so nicht mehr existiert? Hmm. Schwierige Antwort.

Hier geht`s zum Buch

 

Mathias Kopetzki